Brasilien. So weit weg. So große Städte: Sao Paulo, Rio de Janeiro. Was viele nicht wissen: Nicht Rio, nicht Sao Paulo, sondern Brasília ist die Hauptstadt Brasiliens. Und meine zweite Zweitheimat. (Die erste, nicht minder interessantere Zweitheimat, ist diese hier.) Vor über 60 Jahren kam meine Familie nach Brasília, zusammen mit vielen anderen. Mitten in einem Tross von Menschen aus allen Teilen dieses riesigen Landes, moderne Nomaden waren sie, und sie waren auf der Suche nach dem Glück. Ganze Karawanen von Menschen zogen damals an den Ort in Brasilien, an dem Großes entstehen sollte. Ein bisschen so wie damals, im Wilden Westen, als die Menschen in die Wildnis aufbrachen, um eine neue Heimat, Geld, Glück und Zufriedenheit zu finden. Mein Großvater verdingte sich als Tagelöhner, überall dort, wo es Arbeit gab, meine Großmutter buk, kochte, nähte, stickte sich die Hände wund und ihre Töchter, darunter meine Mutter, packten schon als kleine Mädchen kräftig mit an.

Brasília: Eine neue Stadt mitten in der Wildnis
Wild war Brasília damals ohne Ende – denn an der Stelle, wo von heute aus der fünftgrößte Staat der Erde regiert wird und mehr als vier Millionen Menschen wohnen, stand Anfang der fünfziger Jahre: Nichts. Nichts außer ein paar Bäumen und Büschen auf dem Land von Großgrundbesitzern, deren Grund so groß war, dass sie ihn selbst nicht kannten. Während an der Küste Brasiliens die Menschen in immer mehr wachsende Städte wie Rio und Sao Paulo drängten, war das Landesinnere Brasiliens vor 1955 nahezu verlassen. Keine Wirtschaft, keine Industrie und ein Hauch von Bevölkerung, die nur von dem lebte, was das Land hergab.

Dann kam die Stunde Juscelino Kubitscheks, 1955 zum Staatspräsidenten Brasiliens gewählt, und er hatte eine Vision: Cinquenta em cinco. Fünfzig in fünf. In nur fünf Jahren sollte Brasilien den Fortschritt der Industrieländer der letzten fünfzig Jahren aufholen. Armut und Hunger sollten bekämpft und Brasilien zu einer aufstrebenden Wirtschaftsmacht werden, frei von alten Zwängen und Abhängigkeiten aus Kolonialzeiten. Und im Gegensatz zu heute hatte Brasilien damals einen bemerkenswerten Präsidenten, auf den Verlass war.
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Zentraler Teil dieses ehrgeizigen Plans war Brasília, als neu entworfene Hauptstadt Symbol des Wandels und Fortschritts. Anfangs eine belächelte Idee, nahm die Planung Brasílias schnell Fahrt auf. Architekten und Stadtplaner wurden gesucht, Arbeiter rekrutiert. Das Land war in Aufbruchsstimmung. Und so auch meine Großeltern. Zusammen mit allen anderen packten sie ihre drei Töchter, ihre spärlichen Habseligkeiten, ihre Träume und Wünsche, und machten sich auf in eine neue, bessere Zukunft.

Die Stärke liegt manchmal im Einfachen
1960 wurde Brasília tatsächlich als Hauptstadt Brasiliens eingeweiht – Juscelino hatte es tatsächlich geschafft, weite Teile seines kühnen Planes für das Land zu verwirklichen. Bis heute wird er dafür besonders von den Einwohnern Brasília dafür glühend verehrt. Er soll ein gütiger und bescheidener Mann gewesen sein, volksnah und loyal, hochgebildet – einer von der Sorte Politiker, die man heutzutage in Brasilien nicht mehr kennt. Als Brasília gebaut wurde, war Juscelino oft vor Ort. Seine einfache Behausung dieser Zeit, den Catetinho, kann man bis heute besichtigen: Ein kleines Holzhaus, schnell dahingezimmert und weit weg von jeglichem staatsmännischen Glamour.
Und während Juscelino aus seiner Holzhütte die Geschicke des Landes leitete, saßen meine Großeltern jeden Abend in ihrer. Und träumten müde und erschöpft nach einem kräftezehrenden Arbeitstag von einem besserem Leben. In der unerschütterlichen Hoffnung, dass sich harte Arbeit irgendwann auszahlt.
Heute würde ich sagen: Hat ganz gut geklappt. Und das Nomaden-Gen? Das lebt in mir weiter.